Flucht Vertreibung Neuanfang

Alltag im Flüchtlingslager

Hauptsache ein Dach über dem Kopf!

Weltweit sind im Jahre 2023 ca. 110 Millionen Menschen auf der Flucht oder wurden aus ihrer Heimat vertrieben. Immer neue Kriege und Krisenherde verursachen die größten Fluchtbewegungen seit dem Zweiten Weltkrieg. Dazu kommen Menschen, die aus wirtschaftlichen Gründen sich gezwungen sehen, ihre Heimat zu verlassen. Vor allem die europäischen Staaten stehen in diesem Zusammenhang vor kaum lösbaren Aufgaben. Vordringliches Ziel ist es den Menschen ein Dach über dem Kopf zur Verfügung zu stellen. Überall entstehen Flüchtlingslager und - unterkünfte.

1945 zum Ende des Zweiten Weltkrieges begaben sich Millionen von Deutschen auf eine Reise ins Ungewisse. Anfangs auf der Flucht aus Furcht vor der Rache der Roten Armee, später dann als Vertriebene aus den Gebieten, die Deutschland nach Willen der Siegermächte an die UdSSR, CSSR und Polen abzutreten hatte. Sie alle machten sich auf den Weg, ohne zu wissen, was sie erwarten würde. Die Wege der Flucht und Vertreibung waren durchaus unterschiedlich. Während viele Ostpreußen übers Meer nach Schleswig-Holstein und das deutsch besetzte Dänemark flohen, machten sich Abertausende aus Pommern, Schlesien und dem Sudetenland mit Fuhrwerken, Handwagen oder einfach zu Fuß auf den Weg gen Westen. Einige in Trecks zusammengefasst, viele unorganisiert auf sich selbst gestellt. Mit der zunehmenden Vertreibung begannen die organisierten Transporte, die auf die verbliebenen deutschen Territorien verteilt wurden.

Am Anfang konnten noch viele Flüchtlinge vor allem im ländlichen Raum unterkommen. In der einheimischen Bevölkerung wuchs allerdings zunehmend die Abneigung und Furcht vor den Fremden aus dem Osten. Die Bereitschaft Flüchtlinge aufzunehmen sank dramatisch. So wurde es notwendig zentrale Flüchtlingsunterkünfte und -lager aufzubauen. Dazu wurden auch Lager aus der Zeit des Dritten Reiches weitergenutzt. Darunter Lager des Reichsarbeitsdienstes, Wehrmachtsunterkünfte aber auch ehemalige Gefangenenlager. In den Städten wurden Kasernen, Schulen und andere öffentliche Gebäude zu Flüchtlingsunterkünften umgestaltet. Aufgrund der schwierigen Versorgungslage konnten die Unterkünfte und Lager oft nur notdürftig eingerichtet werden. Ganze Familien mussten sich auf engstem Raum einrichten. Alleinstehende fanden sich in Gruppenunterkünften wieder.

Eine Besonderheit bildeten die Lager in Dänemark. Beschlagnahmte man unter der deutschen Besetzung einfach Hotels und andere Unterkünfte, so änderte sich dies mit der deutschen Kapitulation schlagartig. Die dänischen Besitzer forderten ihre Immobilien zurück und es mussten Sammellager eingerichtet werden. Sie dienten in erster Linie der Zusammenführung der deutschen Internierten, um sie schnellstmöglich nach Deutschland zurückzuschicken. Dennoch bestanden auch diese Lager über mehrere Monate hinweg.

Waren die Flüchtlingsunterkünfte und -lager ursprünglich nur als vorübergehende Notlösung gedacht, so blieben doch viele auf Grund der weiter vorherrschenden Wohnraumknappheit über Jahre bestehen. Aus einigen entwickelten sich später sogar sogenannte Flüchtlingssiedlungen, indem die provisorischen Unterkünfte festen Häusern wichen.

Für die Bewohner der Flüchtlingseinrichtungen stand vor allem die bange Frage um die Zukunft und die Angst um die vermissten Angehörigen im Zentrum ihrer Gedanken. Viele Familien wurden auf der Flucht auseinandergerissen oder verloren sich in den Kriegswirren aus den Augen. Die Väter standen oft noch an der Front oder befanden sich schon in Kriegsgefangenenlagern, als ihre Angehörigen ihre Heimat verlassen mussten. Die Suche nach den Angehörigen gestaltete sich oft schwierig, wenn auch das Rote Kreuz bemüht war, die Suche über einen eigens geschaffenen Suchdienst zu organisieren. Erst langsam wurden die Kriegsgefangenen in den verschiedenen Ländern systematisch erfasst. Dennoch schafften es einige ihre Familien in den Flüchtlingslagern aufzuspüren und Kontakt zu ihnen aufzunehmen.

 In vielen Flüchtlingslagern wurden Bretterwände mit Suchanzeigen aufgestellt. Sie waren in den ersten Monaten die einzigen Austauschmöglichkeiten für Informationen unter den Flüchtlingen. Von Neuankömmlingen erhoffte man Auskunft über den Verbleib von Angehörigen.

Ein weiteres Problem der Flüchtlingsunterkünfte waren oftmals die mangelhaften hygienischen Zustände. Bereits die Flucht- und Vertreibungsumstände hatten dazu geführt, dass sich Seuchen und Krankheiten ausbreiteten. Da viele Flüchtlinge und Vertriebene aufgrund der ertragenen Strapazen gesundheitlich bereits sehr geschwächt in den Unterkünften ankamen, waren sie besonders anfällig für verschiedene Infektionskrankheiten. Dies in den Griff zu bekommen, dafür sollten die Hygienemaßnahmen, die in den meisten Lagern zum Standard gehörten, sorgen. Entlausung und Impfung waren zum Teil Voraussetzung für Aufnahme in den Einrichtungen oder die Ausstellung von Ausweispapieren. In den größeren Lagern gab es Krankenreviere, die sich um akute Krankheitsfälle kümmerten. Bewohner kleinerer Einrichtungen waren in diesen Fällen auf sich selbst gestellt und mussten vor Ort ärztliche Hilfe organisieren. Die Kirchen bemühten sich in den Lagern auch für eine seelsorgerische Betreuung zu sorgen. Die unterschiedlichen Konfessionen, die in den Lagern aufeinandertrafen, erschwerten dies allerdings.

In den Flüchtlingsunterkünften und -lagern kamen Menschen aus den unterschiedlichsten Regionen und den verschiedensten gesellschaftlichen Schichten zusammen. Kulturelle und konfessionelle Unterschiede traten ebenso hervor, wie sprachliche Eigenheiten. So ist es nicht verwunderlich, dass sich auch das Miteinander in den Einrichtungen oftmals problematisch gestaltete. Aufgrund der Erlebnisse während der Flucht und Vertreibung waren viele Menschen traumatisiert und litten unter psychischen Problemen. Die Unsicherheit über die eigene Zukunft sowie die Sorge um vermisste Angehörige verstärkten die nervliche Anspannung. Die räumliche Enge, oftmals waren Familien nur durch Decken voneinander getrennt, boten Gelegenheit für Missverständnisse und Misstrauen. So konnten nichtige Vorfälle zu handfesten Auseinandersetzungen führen. Um Konflikte zwischen den Bewohnern zu vermeiden, galten in vielen Lagern strikte Lagerordnungen, die das Zusammenleben regeln sollten. Sie regelten die täglichen Abläufe und Verrichtungen genauso wie das Verhalten in Bezug auf Sauberkeit und Hygiene. Die Bewohner wurden zudem zu Arbeitsleistungen innerhalb des Lagers herangezogen. Es bestand zwar eine Verpflichtung sich umgehend bei den Arbeitsämtern zu melden und wenn möglich einer Beschäftigung nachzugehen, doch der wöchentliche Arbeitsdienst blieb obligatorisch. Nur so war die Infrastruktur der Einrichtungen aufrecht zu erhalten, da die Unterhaltung der Lager die Kommunen vor große auch finanzielle Herausforderungen stellte.

Trotz aller Widrigkeiten versuchten die Bewohner der Flüchtlingsunterkünfte und -lager sich mit den Gegebenheiten einzurichten und das Beste aus ihrer Lage zu machen. Mit viel Einfallsreichtum und Improvisationstalent und mit bescheidenen Mitteln wurde versucht, wohnliche Räume und etwas Privatsphäre zu schaffen. Die meisten Flüchtlinge und Vertriebenen hatten nur das nötigste Hab und Gut mitnehmen und retten können. Es fehlte vor allem an Möbeln und Geschirr, aber auch an Kleidung zum Wechseln. Manche besaßen nur noch das, was sie am Leibe trugen. So war man gezwungen auf das wenige, was zur Verfügung stand, sorgsam acht zu geben. Es wurde repariert, geflickt und geändert. Glücklich war der, der noch etwas zum Tauschen hatte.

Die Ernährungslage in den Flüchtlingsunterkünften und -lagern garantierte nur das Lebensnotwendigste. Hunger stand auch dort auf der Tagesordnung. Viele Flüchtlinge und Vertriebene versuchten daher in Eigeninitiative zusätzliche Nahrung für ihre Angehörigen zu organisieren. So boten sie sich als Hilfskräfte vor allem in der Landwirtschaft an, um sich mit Naturalien bezahlen zu lassen.

 

In einigen Lagern entstanden mit der Zeit Selbstverwaltungsorgane, die mit den staatlichen Stellen zusammenarbeiteten, um den Lagerbetrieb zu organisieren. Sie kümmerten sich auch um die Interessen und Bedürfnisse der Lagerbewohner. Sie formulierten Beschwerden und Anträge, um die Lagersituation zu verbessern und verfassten Aushänge für die Bewohner. Sie appellierten an die Bewohner, geduldig und dankbar für die Aufnahme zu sein. Man versuchte aber auch die Lagerbewohner zu motivieren, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen und „mit zähem Arbeitswillen an den Neuaufbau unseres Lebens heranzutreten“.

Autor: Christian van Weyden